1. Herr Overschmidt, Ihre App hilft dabei, durch Entscheidungskompetenz die Bereitschaft zur Teilnahme an demokratischen Prozessen zu stärken und Individuen in der Gesellschaft mit mehr Verantwortungsbereitschaft auszustatten. Mit dieser Idee ist ODE.systems in diesem Jahr sogar unter den Semi-Finalist*innen bei „The Futures Project“ dabei. Was war der Auslöser für die Erschaffung dieser App? Haben weltpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle gespielt?
    • Wissen Sie wie hoch die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl 2019 war: 50,66%. Damit haben sich knapp die Hälfte aller Europäer nicht entschieden. In den USA liegt die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen seit 50 Jahren kontinuierlich unter 60 %. Wenn man sich mit der Nicht-Entscheidung beschäftigt, kommt man relativ schnell auch zu Beobachtungen im privaten und beruflichen Umfeld. ODE ist der sichere Ort für eine Community, die den Schritt zu einer sinnvollen Kommunikation gehen will. Nach dem Wechsel von Daten zu Informationen befinden wir uns nun beim Übergang von Information zu Wissen. Seit meinem Eintritt ins Berufsleben, frage ich bei Entscheidungen nach dem Warum und bekomme oftmals aus dem Stegreif erdachte, möglichst auch rechtlich unangreifbare Argumente ohne Aussagekraft geliefert. Es geht aber noch schlimmer: „Weil wir es schon immer so gemacht haben … wir gerade eine neue Richtlinie erdacht haben.“ Am Ende also nichts aus dem wir lernen, uns weiterentwickeln können.
    • Wir sind überzeugt, dass die Wirksamkeit der reflektierten Entscheidungen im privaten Umfeld auch zur Bereitschaft des Engagements im Beruf und Partizipation in der Gesellschaft führt. Es geht jetzt nur darum, den Prozess anzustoßen und die Phineo® Wirktreppe weiter zu erklimmen. Dazu braucht es natürlich Ressourcen und eine Menge Energie.
  2. Sie haben sich den App-Nutzern gegenüber drei Grundsätzen verschrieben: keine Datenverwertung, keine Beeinflussung und keine Abhängigkeiten. Weshalb waren Ihnen diese ethischen Grundsätze so wichtig? Oder anders gefragt: Sind diese Grundsätze nicht eine zwingende Voraussetzung für belastbare Ergebnisse der Nutzung?
    • Wir wollten ein sichtbares Zeichen setzen, unseren ethischen Grundsätzen treu bleiben. Unser Ansatz war von Beginn an, ODE als transparentes und verlässliches Unternehmen aufzusetzen und alle Entscheidungen transparent zu halten – von Partner*innen bis Ressourcengeber*innen. Wir wollen keine vorgefertigten Entscheidungen und keine Ergebnisse vorgeben, beeinflussen oder verwerten. Mit den Aussagen wollten wir dem Respekt Nachdruck verleihen und die Community dadurch motivieren mit uns gemeinsam zu arbeiten.
    • Wir sehen uns und die Nutzer:innen der Community als ein Team und so war es nur logisch, die drei ethischen Grundsätze a) niederzuschreiben, b) sie zu ratifizieren und c) offen zu kommunizieren. Einer der Tester hat zuallererst eine Entscheidung aus der Vergangenheit – seine Uni-Auswahl – eingegeben und war so beeindruckt vom Ansatz, dass er weitere Entscheidungen zu seiner technischen Ausstattung, der Auswahl des Zahlsystems PayPal oder Paytm bis hin zur Beziehung eingegeben hat. Die von ihm angelegten Prozesse waren sehr persönlich, d.h. es ist in unserer Verantwortung ihn zu schützen.
    • Es ist an uns, neue oder nächste Schritte aufzusetzen – immer die Maßgabe der ethischen Grundsätze im Hinterkopf –, um die Nutzer*innen zu unterstützen. Bei unserer Forschung haben die Befragten deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Sie auch gerne die schnelleren, einfacheren Entscheidungen einstellen wollen. Also alles aus einer Hand. Beim Websummit in Lissabon haben viele der Standbesucher die Abstimmung eingestellt und geteilt, welchen Film / welche Serie sie auf Netflix am Abend schauen wollen. Wir haben auf diese Anforderung reagiert und die Opinon Polls als weiteres Tool eingebunden.
  3. Welche Vision verfolgen Sie mit der App? Was soll sich im gesellschaftlichen oder demokratischen Kontext in 5 Jahren verändert haben, damit Sie sagen können, die App war bisher ein voller Erfolg?
    • Wir hoffen, dass unsere Apps in fünf Jahren als Hilfsmittel im Alltag genutzt werden. Allerdings ist es auch Ziel, dass unsere Nutzer durch die Nutzung mehr Vertrauen in ihre eigenen Entscheidungen finden, auch ohne App.
    • Ein großes Ziel ist, dass Entscheidungskompetenz weltweit auf den Lehrplänen steht und die SDGs – Sustainable Development Goals – der UN auf einem guten Weg sind, bis 2030 erfüllt zu werden. Sinnvolle, überlegte und gut informierte Entscheidungen können hier Wirkung zeigen.Der Entscheidungsprozess in der App ist in Schritte aufgeteilt. Entscheider*innen können in zeitlichen Intervallen, ortsunabhängig auf den Prozess zugreifen. Dieser Ansatz unterstützt durch unregelmäßige Wiederholungen über einen längeren Zeitraum die Lernkurve der Nutzer*innen.
    • Im kommenden Jahr beginnen wir mit einer Business-Version, die Unternehmen und Organisationen im Zeitalter von agilem New Work hilft, kollaborativ Entscheidungen zu treffen. Wir wollen uns auch in Zukunft noch intensiver mit dem Thema Behavioral Science beschäftigen und gemeinsam mit unseren Partner*innen arbeiten und mit Universitäten forschen. So finden wir heraus, wie wir sie weiter unterstützen können, so wie der 14jährige Schüler der Gems Academy in Dubai, der mir im Gespräch mitgeteilt hat: „Ich möchte meine Entscheidungen ablegen können, um daraus in Zukunft zu lernen“.
    • Unsere Feature-Liste ist dank der mittlerweile dreijährigen Gespräche, eigenen Forschung und den Projekten mit Universitäten aus Deutschland, den Niederlanden, England und den USA randvoll. Wenn man aber bedenkt, dass wir einer amerikanischen Studie zufolge 30.000 Entscheidungen pro Tag treffen, sind wir noch lange nicht am Ende. Das heißt, es gibt viel zu tun. Jede Veränderung hat eine Entscheidung voraus.

 

November 2020