- Herr Groß-Albenhaus, der Ausbildungsgang „Kauffrauen und Kaufmänner im E-Commerce“ ist der erste für die digitale Wirtschaft. Wie kam es dazu? Ist eine Ausbildung für den digitalen Handel nicht längst überfällig?
- Obwohl der neue Ausbildungsberuf im eigentlichen Verfahren innerhalb von nur 15 Monaten verordnet wurde, reicht die Entstehung bereits ins Jahr 2012 zurück. Damals haben wir beim DIHK auf direkte Bitten unserer Mitglieder hin nachgefragt, ob wir einen Ausbildungsberuf „Online-Kaufleute“ schaffen könnten. Zum damaligen Zeitpunkt lautete die Grundregel, dass aufgrund der demographischen Entwicklung neue „Splitterberufe“ nicht geschaffen werden sollten. Und E-Commerce schien ein Zusatz zur Tätigkeit im Einzelhandel zu sein, oder – als Bildschirmtätigkeit mit viel Auswertung von Statistiken – als eine mögliche Wahlqualifikation für Bürokaufleute geeignet. In der Folge haben wir vor allem mit dem Hauptverband des Einzelhandels gerungen, konnten jedoch aufgrund einer besonderen Einschränkung keinen Weg finden: Denn Einzelhandelskaufleute können nur in Betrieben ausgebildet werden, die eine Ladenkasse haben. Der Ausbildungsbereich Kasse und Beratung von Kunden im Laden ist konstitutiv für diesen Beruf, so dass Online-Pureplayer und andere E-Commerce-Anwender, die keine Ladengeschäfte für Endkunden betreiben, als Ausbildungsbetriebe überhaupt nicht in Fragen kämen. Wir haben weiter gebohrt und erreicht, dass im Bildungsausschuss des Deutschen Industrie- und Handelskammertages ein eigener Ausbildungsberuf für E-Commerce als eine sehr gute Möglichkeit erkannt wurde, die duale Ausbildung zu stützen. Man darf nicht vergessen, dass Ausbildung mittlerweile als zweite Wahl erscheint und viele lieber gleich einen Bachelor-Abschluss anstreben. Dies auch vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Ausbildungsberufe wenig modern wirken. Von November 2014 an haben wir mit Mitgliedern einen ersten Entwurf einer Ausbildungsordnung entwickelt. Da wir selbst jedoch kein Arbeitgeberverband sind und auch keinen Sitz im Kuratorium der Wirtschaft für Bildungsfragen (KWB) haben, bedurfte es im Frühjahr 2015 der Abstimmung mit dem Hauptverband des Einzelhandels HDE und letztlich mit einer breiteren Allianz von Verbänden, die direkt vom neuen Ausbildungsberuf profitieren. So ist denn auch gelungen, einen Beruf weit über den Warenhandel hinaus zu schaffen, der Touristiker, Musikbranche, Veranstaltungsgewerbe, nicht zuletzt die herstellende Industrie anspricht. Überall, wo E-Commerce-Prozesse gelebt werden, kann E-Commerce ausgebildet werden.
- Gibt es aus Sicht des bevh weitere Bedarfe für neue Ausbildungsgänge an den Schnittstellen Handel, Logistik, E-Commerce? Wenn ja, ist die schnelle Genehmigungszeit von fünf Jahren ein Signal?
- Die kaufmännische Erstausbildung im E-Commerce deckt, wie geschildert, schon viel ab. Aber zweierlei ist wichtig zu wissen: Zum einen, dass der neue Beruf keinen anderen bestehenden Beruf ersetzt und bewusst vermieden wurde, Inhalte aus dem Einzelhandel, Dialogmanagement, Groß- und Außenhandel, Logistik oder Reisebüro- bzw. Tourismus-kaufmännischen Berufen oder IT-Berufen zu entnehmen. Keine „Rosinenpickerei“ also, stattdessen haben wir in den berufsprofilgebenden Ausbildungsinhalten sehr genau herausgearbeitet, was E-Commerce als anwendungsorientierter „Werkzeugberuf“ über Branchengrenzen hinweg prägt. Das bedeutet vice versa, dass in den anderen Ausbildungsberufen weiterhin Bedarf besteht, E-Commere-Inhalte in weit geringerem Umfang dennoch zu integrieren. Das bleibt also eine Aufgabe für jeden Beruf, und die Kaufleute im Einzelhandel haben seit diesem Jahr eine entsprechende Wahlqualifikation. Wobei diese, wenn überhaupt, nur wenige Wochen umfasst, nicht drei Jahre wie im nunmehr einschlägigen Beruf. Zum anderen ist die Ausbildung immer nur der erste Schritt. Der deutsche Qualifikationsrahmen sieht ihn auf Niveau 4. Das bedeutet: Ein Kaufmann kann selbständig alle dort vermittelten Aufgaben erledigen. Aber in einer Branche, die unter erheblichem Innovationsdruck steht und wo Wettbewerb von allen Seiten passiert, braucht es weitergehende Qualifikationen. Hier sind die Hochschulen gefordert, die derzeit nur sehr wenige dezidierte E-Commerce-Studiengänge anbieten. Das ist zum einen den allgemeinen Anforderungen an Hochschulabschlüsse geschuldet, aber eben auch ein Zeichen dafür, dass Digitalisierung an vielen Universitäten noch nicht angekommen ist. Wir haben versucht, alle Studiengänge zu katalogisieren, die auch nur in einzelnen Felder auf E-Commerce-Praxis Bezug nehmen. Weniger als 1 Prozent aller und weniger als 5 % aller angebotenen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge qualifizieren in irgendeiner Form für E-Commerce. Insofern sollte es ein Signal für die Hochschulen sein, dass eine Neuordnung schnell gehen kann. Und mit den „Kaufleuten im E-Commerce“ liegt eine Basis vor, von der aus nun die besonderen höheren Qualifikationen abgeleitet werden können – die, die Transformation und Führung stärker in den Mittelpunkt setzen, also über die selbständige Bearbeitung eines abgegrenzten Aufgabengebietes hinausgehen.
- In welchen Branchen wird es Ihrer Meinung in den kommenden 5-10 Jahren zu einem gravierenden Stellenumbau kommen? Welche Fähigkeiten sind gefragt bzw. sollten die Schulen jetzt schon ausbilden?
- Da, wo der Kern der Wertschöpfung in der Fertigung oder einer handwerklichen Leistung besteht, wird die digitale Transformation zunächst weniger disruptiv wirken. Entscheidend ist, ob diese Unternehmen ihre Kernleistung ohne digitale Kompetenzen auch in 5-10 Jahren noch am Markt anbieten können. In der Produktion sieht man schon, dass Wertarbeit nicht nur andernorts genauso erbracht wird, sondern diese auch über digitale Plattformen global vermarktet wird. Im Handwerk wiederum ist der demographische Faktor momentan viel einflussreicher – mancherorts können Gewerke mangels Bewerber nicht mehr ausbilden. Das hat aber bald einen Einfluss auf die Industrie, die ggf. direkt an den Abnehmer verkaufen und damit Lösungen entwickeln muss, die auch ohne handwerkliche Vorbildung sicher verbaut werden können. Ganz platt formuliert: Der Elektromotor wird den Werkstätten andere Leistungen aufzwingen, und der resultierende Wettbewerb wird eben auch E-Commerce-Kompetenz erfordern. Der Elektriker, der in fünf Jahren keine vernetzte Heimtechnik „kann“ oder schlimmstenfalls die eigene Zertifizierung bei den korrespondierenden Plattformen und Herstellern verpasst, verschwindet aus dem Markt. In Berlin gibt es erste Gymnasien, die ab dem kommenden Schuljahr anwendungsorientiertes Digitalwissen vermitteln: von der Programmierung von Apps über die Arbeit mit Micro-Controllern zur Steuerung von technischen Geräten. Es wäre sehr gut, wenn mehr und mehr Schulen hier auch Unternehmerisches Denken vermitteln könnten, wie es z.B. von Organisationen wie NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) vermittelt wird.
Januar 2018